Neu erschienen: "Hellmuth Costard", herausgegeben von Lars Henrik Gass

Hellmuth Costard: Das Wirkliche war zum Modell geworden

Auswahl von über 100 bislang überwiegend unveröffentlichen Briefen, Fotos, Texten und Zeichnungen erschienen

 

Lars Henrik Gass, Leiter der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen, hat eine Auswahl von über 100 Briefen, Fotos, Texten und Zeichnungen von Hellmuth Costard herausgegeben. Die Dokumente aus dem Nachlass und privaten Archiven, überwiegend erstmals publiziert, machen Costard als Filmemacher, film- und klimapolitischen Aktivisten, Erfinder und Künstler sichtbar. „Der Anspruch von Costards Werk wird in seinen Texten ebenso wie in seinen Bildern formuliert, zumindest nicht minder radikal. Costard hinterlässt eine Reihe von nicht nur im Maßstab deutscher Filmgeschichte ziemlich singulären Marginalien, die im Grunde eine eigene Filmtheorie begründen, weil sie den Film als Medium betrachten, sowie ein paar Filme, die Theoreme einer anderen Gesellschaft sind, einer Gesellschaft mündiger Menschen, nicht von Konsumenten.“ (Lars Henrik Gass)

 

1968 sorgte Hellmuth Costard für einen Skandal auf den Kurzfilmtagen in Oberhausen: Sein Film Besonders wertvoll zeigt einen Penis, der die Rede eines CDU-Bundestagsabgeordneten zum neuen Filmförderungsgesetz vorträgt. Die Festivalleitung weigerte sich, den Film zu zeigen, obwohl ihn der Auswahlausschuss angenommen hatte. Fast alle deutschen Filmemacher zogen daraufhin ihre Beiträge zurück. Peter Handke verließ aus Protest die Jury und hinterließ einen Text zu den Vorgängen.

 

Costard wurde in der Folge zu einem der prominentesten Vertreter des deutschen Experimentalfilms. Zu seinen bekanntesten Filmen gehört Fußball wie noch nie (1971), in dem mehrere Kameras während der gesamten Länge eines Fußballspiels nur den Spieler George Best beobachten; ein Konzept, das Douglas Gordon und Philipp Parreno 2006 in ihrer Arbeit Zidane, un portrait du 21e siècle aufgriffen.

 

In Der kleine Godard (1978) zeigt Costard Jean-Luc Godard beim Versuch, in Deutschland einen Film zu realisieren. Ähnlich wie Godard erforschte Costard schon früh die Möglichkeiten der Filmtechnik, die er auf ihr gesellschaftliches Potential hin befragte. Sein vielleicht größter Erfolg war die Aufführung des Films Echtzeit (1983), in dem er sich mit neuster Computertechnik beschäftigte und der im Wettbewerb der Filmfestspiele in Berlin uraufgeführt wurde.

 

Mit Beginn der 1980er Jahre wurde es für Costard immer schwieriger, für seine Projekte die nötige Finanzierung zu erhalten. Er zog sich zwar nicht völlig aus der filmischen Arbeit zurück, widmete sich jedoch zunehmend anderen Themen, vor allem Fragen erneuerbarer Energie. Costards letzter Film Vladimir Günstig (2000) handelt von einer Idee, mit der sich Costard in seinem letzten Jahrzehnt beschäftigte: Sonnenstrahlen zur Energiegewinnung zu bündeln. Die „Sunmachine“ ist ein optisches System, mit dem Solarstrahlung konzentriert und damit auf ein nutzbares Niveau gebracht wird. Alle Teile der Maschine sollten aus kostengünstigen verfügbaren Materialien bestehen.

 

Ästhetik war bei Costard immer der Frage unterstellt, wie Technologie in den Dienst der Gesellschaft gestellt werden könne: der Künstler als Ingenieur, der Filmemacher als Konstrukteur. Über Costards Werk wird ein radikales Verständnis von Film erkennbar, das auf verblüffende Weise Antworten auf die Fragen unserer Gegenwart gesucht hat, auch im Scheitern. Costard ist eine der herausragenden Figuren des Neuen Deutschen Films, dessen Werk neu zu entdecken und erst zu verstehen ist.

 

Hellmuth Costard. Das Wirkliche war zum Modell geworden

Herausgegeben und mit einem Vorwort von Lars Henrik Gass

Verlag Brinkmann & Bose, Berlin

240 Seiten, 26 Euro

Broschur, zahlreiche Abbildungen

ISBN 978-3-940048-40-0

 

 

Hellmuth Costard

Geboren am 1. November 1940 in Holzhausen bei Leipzig. 1962 begann er ein Studium der Psychologie in Hamburg, wo er 1964 seinen ersten Film, ASTA-Spot, drehte. 1967 war er Mitbegründer der „Hamburger Filmmacher Cooperative“. 1968 kam es bei den Kurzfilmtagen zum Skandal um Besonders wertvoll. Unter anderem gewann er 1968 den Preis des Experimentalfilmfestivals Knokke für Warum hast du mich wachgeküßt und 1978 den Preis der Deutschen Filmkritik und den Fernsehpreis der Akademie der Darstellenden Künste für Der kleine Godard. Gestorben am 12. Juni 2000 in Oberhausen an den Folgen einer Krebserkrankung.

 

Der Herausgeber:

Lars Henrik Gass ist Leiter der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen. Er schreibt über Film und filmpolitische Themen, u.a. in FAS/FAZ, filmdienst, Freitag, springerin, Lettre International und ist Mitherausgeber der Bände „Provokation der Wirklichkeit. Das Oberhausener Manifest und die Folgen“ (2012) und „after youtube. Gespräche, Portraits, Texte zum Musikvideo nach dem Internet“ (2018) sowie Autor der Bücher „Das ortlose Kino. Über Marguerite Duras“ (2001), „Film und Kunst nach dem Kino“ (2012/2017, auf Englisch 2019) und „Filmgeschichte als Kinogeschichte. Eine kleine Theorie des Kinos“ (2019).

 

Oberhausen, 15. Dezember 2021

 

Pressekontakt: Sabine Niewalda, T +49 (0)208 825-3073, niewalda(at)kurzfilmtage.de